Morus, Campanella und Bacon: Politische Gedankenexperimente und Utopien

Morus, Campanella und Bacon: Politische Gedankenexperimente und Utopien
Morus, Campanella und Bacon: Politische Gedankenexperimente und Utopien
 
Wenn Wissen und Wahrheit für den Menschen zugänglich sein sollen, dann besteht das spezifisch Menschliche in dem freien Zugriff auf die Welt. Dieser Griff nach der Natur konnte durch die Anerkennung ewiger Wahrheiten reguliert werden, sofern diese sich auch im individuellen Denken manifestierten. Wie aber lässt sich die Vielzahl der Individuen regulieren, wenn die Weisheit prinzipiell in jedermanns Hand lag und jedes Mal anders aussah? Francis Bacon, Gottfried Wilhelm Leibniz und viele andere forderten daher eine vernünftige und rationelle Wissenschaftspolitik, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt auch den gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen würde. Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes dagegen sahen in der menschlichen Gesellschaft selbst das Ordnungsproblem. Für sie schloss der freie Zugriff auf die Natur den auf die Menschen mit ein und blieb deshalb dem Tyrannen oder Monarchen vorbehalten. Insgesamt aber stand der Erkenntnisoptimismus der Renaissance vor der Frage, wie eine Gesellschaft von erkenntnisfähigen Individuen angesichts ihrer Vielfalt an Einzelnen und Erscheinungsformen aussehen könnte. Hier half unter anderem ein Gedankenexperiment: die Utopie.
 
Thomas Morus - enger Berater König Heinrichs VIII., dann aber wegen seiner Treue zur römischen Kirche hingerichtet - hat die Schrift geschrieben, die dem Denkmodell den Namen gab. Erasmus von Rotterdam hatte ihm seine Schrift »Lob der Torheit« gewidmet, eine Satire, in der die Dummheit auf die Wissenschaften schimpft. Morus antwortete mit der Abhandlung »Über den besten Zustand des Staates und die Insel Utopia«.
 
Utopia, das heißt so viel wie »Nicht-Ort«, »Un-Ort« oder »Nirgendwo«, ist ein Inselstaat mit 54 Städten, gewählten Repräsentanten und einem Präsidenten auf Lebenszeit. Das Volk lebt ausschließlich von Landwirtschaft. Die tägliche Arbeit und das gesellige Leben sind einvernehmlich geregelt, es herrscht Monogamie, einverständliche Ehescheidungen unter staatlicher Aufsicht sind aber möglich. In der Freizeit befassen sich die Utopier mit humanistischer Bildung. Das Volk bekennt sich zu einer Vernunftreligion mit sparsamen Riten und Gebeten, »die so abgefasst sind, dass jeder Einzelne auf sich beziehen kann, was alle zugleich sagen«. Verschiedene Sekten werden toleriert.
 
Rund 100 Jahre nach Morus beschrieb der Dominikaner Tommaso Campanella eine »Sonnenstadt« (»Civitas solis«). Campanella stammte aus Kalabrien und las schon während seiner schulischen Ausbildung die Schriften seines Landsmannes Bernardino Telesio, der eine Verbindung von empirischer Forschung mit vorplatonischer Naturlehre anstrebte. Schon zweimal als Ketzer verurteilt, nahm Campanella 1599 an einem Aufstand gegen die spanische Herrschaft in Süditalien teil, wurde verhaftet und verbrachte bis 1626 sein Leben in verschiedenen Gefängnissen. Erst in Paris fand er unter dem Schutz von Kardinal Richelieu wieder einige Sicherheit. Während der Kerkerhaft schrieb Campanella einige seiner Hauptwerke, die »Sonnenstadt«, eine Metaphysik, eine Naturphilosophie und eine Verteidigung Galileo Galileis, der 1616 zum ersten Mal der Häresie angeklagt wurde. Ein Freund schmuggelte die Texte aus dem Gefängnis und veröffentlichte sie von 1617 an in Frankfurt am Main.
 
Wie die meisten Renaissance-Denker polemisierte Campanella gegen die Schulphilosophie, die sich in Wortgezänk ergehe. Im Gegensatz zu diesen »toten Tempeln« der Literatur vergleicht er das Studium der Natur mit einem »lebendigen Tempel«, denn nach seiner Auffassung ist die Natur deshalb erkennbar, weil sie zugleich als beseelter Begriff wie als Bild Gottes existiert. Einen solchen Naturtempel hat Campanella in seiner »Sonnenstadt« geschildert, deren Titel an die »Gottesstadt« (»Civitas dei«) des Augustinus erinnert. Diesen fiktiven »philosophischen Staat« siedelte er auf einer Insel bei Indien, Ceylon, auf einem Berg, an. Er ist von sieben Mauern entsprechend den Planeten umgeben und wird von einem runden Tempel beherrscht. Die Vorhänge des Tempels und alle Mauern sind mit Bildern zu allen Bereichen der Wissenschaften bemalt, angefangen von den Sternen über die Mathematik, Alphabete, Mineralien, Pflanzen, Tiere, die mechanischen Künste bis zu hervorragenden Persönlichkeiten wie Mose, Osiris, Pythagoras, Caesar, sogar Mohammed, schließlich auch Christus und die Apostel. An dieser gemalten Welt lernen die Kinder die Grundbegriffe der Wissenschaften.
 
Wie der Aufbau der Stadt zeigt, ist Campanellas »Utopie« im Gegensatz zu der des Morus streng zentralistisch geordnet. Regiert wird sie von einem Priesterfürsten, genannt Hoh (Sonne) oder Metaphysicus. Er wird aufgrund seiner überragenden Kenntnisse aller Wissenschaften gewählt und sein Wissen schützt ihn davor, grausam, verbrecherisch oder tyrannisch zu sein. Ihm stehen Pon, Sin und Mor, das heißt »Macht«, »Weisheit« und »Liebe« zur Seite, die ihrerseits eine Hierarchie von Beamten unter sich haben. Campanella übernimmt dabei einen Gedanken von Nikolaus von Kues, der die Dreifaltigkeit auch auf die Struktur des Universums anwandte, und überträgt sie auf die Leitung des philosophischen Staates. Alle sozialen Fragen werden nach Vernunft geregelt, selbst zum Tode verurteilte Verbrecher versöhnen sich mit ihren Opfern, bevor sie vom Kollektiv gesteinigt werden, sofern sie sich nicht freiwillig mit Schießpulver verbrennen. Frauen sind Gemeinbesitz, und die Regierung organisiert sogar die Zuchtwahl, während Männern, die besonders unter dem Sexualtrieb leiden, unfruchtbare Frauen zur Verfügung gestellt werden. Familien gibt es nicht, sondern Arbeitskollektive. Ein System geheimer Beichte sorgt dafür, dass - unter Wahrung der Anonymität - die Regierung über alle Untaten informiert ist. Ansonsten bestimmt eine christliche Vernunftreligion das Leben, sodass die ganze Gottesstadt ein lebendiger Tempel Gottes ist.
 
Auch der englische Politiker Francis Bacon hat etwa gleichzeitig mit Campanella seine Vision eines rational strukturierten Lebens in einer Art Utopie beschrieben. Nach seinem politischen Abstieg 1620 widmete er sich der »Großen Unterweisung«, einem systematischen Lehrbuch der Philosophie und Wissenschaften, dessen Systematik er der Erzählung von der »Neuen Atlantis« zugrunde legte, die allerdings unvollendet blieb. Bacons Insel liegt irgendwo im Ozean, ein Überbleibsel des untergegangenen sagenumwobenen Atlantis. In der Form eines Reiseberichtes wendet Bacon viel Mühe auf, um die Freundlichkeit, Selbstständigkeit und Pracht des Staates zu schildern. Sein Zentrum ist nach dem biblischen weisen König »Haus Salomon« benannt, das ein wohlorganisiertes naturwissenschaftliches Forschungszentrum ist, wie es Bacons Wissenschaftstheorie im »Neuen Organum« erforderlich machte. Höhlen und Türme, Seen und Laboratorien dienen der Erforschung der Natur und der experimentellen Herstellung neuer Stoffe und Instrumente, einschließlich Flugzeuge und U-Boote. Forscher bereisen die Außenwelt als »Lichthändler«, um wissenschaftliche Ergebnisse zu erkunden, andere arbeiten als »Beutesammler«, »Jäger«, »Gräber« und »Aufteiler«, um in der Literatur, in Experimenten und anderen Wissenschaften das Wissen zu vermehren und zu systematisieren. Ferner gibt es theoretisch tätige Beamte, die die Ergebnisse interpretieren, und solche, die für praktische Anwendungen sorgen. Bedeutende Erfinder werden mit Statuen geehrt; kurz erwähnt Bacon noch das regelmäßige Lob Gottes, mit dessen Werken sich die Akademie ständig befasst.
 
Jede Utopie muss sich die Frage stellen lassen, ob ihre Verwirklichung ernst gemeint ist. Deshalb hat Morus seiner Inselbeschreibung einen Dialog vorangestellt, in dem er strittige Fragen erörterte, etwa die nach der Todesstrafe. Campanellas führende Rolle im Aufstand von 1599 in Kalabrien war durchaus schon von Ideen des Idealstaates geprägt, vor allem dem Verlangen nach einem weisen und universalen Herrscher. Aber konnte er, der für Galilei und die Freiheit des Philosophierens eintrat, der unter dem Terror der spanischen Herrschaft und der Ketzerverfolgung der Gegenreformation litt, eine solche Diktatur der Wissenschaft wünschen? Und konnte Bacon als Politiker ernsthaft glauben, der wissenschaftliche Fortschritt würde sich als Segen für die Gesellschaft auswirken, wenn er nur möglichst beamtenmäßig geregelt würde? Utopien sind Hohlspiegel der Wirklichkeit. Sie zeigen weniger einen wirklichen Wunsch, als vielmehr die ungewünschte Realität. Schwierig bleibt die Übersetzung in konkrete wissenschaftliche Programme. Auffallend ist, wie die drei Autoren Brüderlichkeit, Friedfertigkeit und Freundlichkeit hervorheben. Dennoch ist ihnen die Liebe vorwiegend eine Frage der Eugenik. Wenn alles vernünftig zugeht, kann es in der Tat keinen Streit geben, ein primäres Ordnungsproblem jedes Staates. Vernunft scheint sich am ehesten durch Vererbung einerseits und Unterricht andererseits zu verbreiten. Daher - vor allem bei Campanella - die Sorge um die Geschlechter. Die Utopien plädieren vordergründig auch für eine natürliche Religion, die allen gleichermaßen einleuchtet, und zeigen zugleich, dass die Kirchen eine starke Macht im Staat sind, die über Frieden und Krieg entscheidet, dass sie aber zugleich um ihre Autorität kämpfen müssen. Als Gedankenexperimente müssen Utopien bestimmte störende Umstände ausblenden, zum Beispiel die sie umgebenden Völker und die Geschichte. Die Inseln liegen einsam, ihre Bewohner haben keine Geschichte. Morus konstruiert seinen Inselstaat aus vielen Städten, um ungleichmäßiges Bevölkerungswachstum zwischen den Städten ausgleichen zu können. Gegebenenfalls werden Kolonien als Reservoir gegründet.
 
Hatte der Humanismus die Kultur des Menschen in alten Büchern, in der Rhetorik und in der Liebe zum Lernen entdeckt, so zeigen die Utopien die Sehnsucht nach einheitlicher Bildung, klaren Prinzipien sowie einer Rückkehr zu den Ursprüngen des Wissens im lebendigen Tempel Gottes. Die Leitideen der utopischen Staaten weisen auf die politische Aufklärung voraus und zeigen deren utopischen Aspekt. Der Sonnenstädter Campanellas jedoch ist ein legitimer Sohn der Renaissance: »Die Welt ringsum erfülle ich, Gott schauend, den sie weist.«
 
Prof. Dr. Paul Richard Blum
 
 
Buck, August: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg im Breisgau u. a. 1987.
 
Geschichte der Philosophie. Mit Quellentexten, begründet von Karl Vorländer. Neu herausgegeben von Herbert Schnädelbach u. a. Band 2 und 3. Reinbek 1990.
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 3: Renaissance und frühe Neuzeit, herausgegeben von Stephan Otto. Neudruck Stuttgart 1994.
 Grassi, Ernesto: Einführung in die humanistische Philosophie. Vorrang des Wortes. Darmstadt 21991.

Universal-Lexikon. 2012.

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